Im Gespräch. Azelia Opak über „Quais de Seine“ von Alexandra Badea.
Die anhaltend brodelnden Kriegstraumata des europäischen Kolonialismus und ihrer Familie drängen unaufhaltsam in Noras erinnerungsscheues Bewusstsein: Gegenwart entsteht durch Geschichte(n).
„Quais de Seine“ ist der mittlere Teil von Alexandra Badeas gefeierter Theatertrilogie „Aus dem Schatten“. Die Autorin und Regisseurin gräbt in den tiefen Wunden der Geschichte Frankreichs, wo sie seit 2003 lebt. Was sich nicht vergessen lässt, findet in ihren Stücken unaufhaltsam seinen Weg ins erinnerungsscheue Bewusstsein. Ein Interview mit Regisseurin Azelia Opak.
»Deshalb sind solche leidenden Noras enorm wichtig – Leute, deren Körper schmerzen und die deshalb dieses Unrecht, dieses Vergessen, das sie sich so wünscht, einfach nicht zulassen können.«
Azelia Opak
»Wenn das moralische Urteil eines aufrechten Menschen überschattet wird von einer persönlichen, privaten Angelegenheit, stehen unweigerlich Krieg, Unrecht, generationsübergreifende Spuren im Raum.«
Azelia Opak
Wie siehst du die Autorin Alexandra Badea? Welches Verhältnis hast du zu ihrem Text?
Azelia Opak: Badea lebt tatsächlich zwischen den Kulturen, das ist elementar für ihr Schreiben. Sie ist während der Revolution in Rumänien aufgewachsen. Mit dem Rumänischen verbindet sie Patriotismus, eine gewisse Distanz zu bestimmten Worten, einem traumatischen Sprachgebrauch. Deshalb schreibt sie auf Französisch, das bietet ihr eine Art Befreiung davon.
Beim ersten Lesen ist mir Badeas Sprache fast zu einfach vorgekommen, auch die Poesie, die ihr Schreiben hat. Diese Einfachheit verbunden mit den Themen des Postkolonialismus, des Kriegs, der Beschreibung von Folter und Blutvergießen, verschleppten Familienmitgliedern etc. hat in mir ein Ekelgefühl ausgelöst.
Doch Badea geht genau dadurch an die Wurzeln dieser Figuren und ihrer Beziehungen und die stecken in den historischen Geschehnissen. Dadurch stellt sie Empathie, Identifikation mit den Figuren her. Sie ergründet geschichtliche Paradigmen, die heute unser persönliches, privates, intimes Leben prägen: wie wir lieben können, wie wir hassen können, wie wir unsere Kinder erziehen usw.
Was interessiert dich als Regisseurin an dem Stück?
Azelia Opak: In meiner Arbeit versuche ich immer, das Heute in den historischen Wurzeln zu finden und nicht in den aktuellen politischen Problematiken. Ich habe mich viel mit den 1920er Jahren beschäftigt, weil ich glaube, dass vieles vom gegenwärtigen Österreich in dieser Ära wiederzufinden ist. Badea schreibt heute und vermittelt mir dasselbe Gefühl, das ich bei meiner Suche nach der Wurzel des heutigen Geschehens in alten Texten habe, jedoch mit einer neuen, frischen Identifikationsebene. Das kann nun, wie in dem Stück, eine algerische Geschichte, es könnte aber auch eine andere sein. Sie schlägt die Brücke von damals ins Heute, ohne dokumentarisch zu werden. Ihre Literatur ist für mich das Zeitgenössische hoch zwei.
Welche Rolle spielt diese Brücke von der Vergangenheit ins Heute im Leben der Protagonistin Nora?
Azelia Opak: Nora spürt einen Schmerz und weiß nicht, warum. Später stellt sich heraus, dass er mit der Geschichte ihrer Großeltern zu tun hat. Die Frage ist, inwieweit Wunden aus der Vergangenheit geerbt werden können, ohne dass man von ihnen weiß. Deshalb stellt Badea Nora auch einen Therapeuten gegenüber.
Ich finde spannend, ob ein Körper oder ein Erbgut etwas weiß, das die Ratio noch nicht weiß. Und ob Therapie tatsächlich in der Lage ist, diese „Erbdaten“ zu finden und daraus eine Art Aufklärung zu schaffen. Kann mir das Wissen um die Vergangenheit helfen, im Heute meine Brücke zu überqueren? Inwieweit bin ich meine Großmutter, habe ich das Schweigen meines Vaters internalisiert, haben meine Träume mit mir zu tun? Das hat eine gewisse Brutalität.
In dieser Hinsicht ist auch das Thema Unrecht sehr interessant. Inwieweit leidet der Mensch tatsächlich an einer Ungerechtigkeit? Wenn Unrecht geschieht, kann es passieren, dass der Körper für dich rebelliert, dass man zB. den Schlaf verliert. Auf manchen Menschen ruht Unrecht einfach nicht gut.
Was interessiert Nora an Ereignissen und Menschen, die aus der Geschichte getilgt wurden?
Azelia Opak: Die Geschichten, die Nora erzählt, haben viel damit zu tun, dass ein Unrecht geschieht und es keine Konsequenz hat. Die Geschichte von einem jungen Mädchen zB., von dem man sagt, es habe Selbstmord begangen. In Wirklichkeit war es Opfer eines Massakers, aber das ist zu schrecklich, um sich daran zu erinnern. Man hat die Geschichte einfach überschrieben. Das fasziniert Nora sehr: Menschen ohne Geschichte, wie ihr Großvater, der aus der Familiengeschichte gelöscht worden ist. Sie hat das dringende Bedürfnis, diese Geschichten zu füllen. Nora könnte auch einfach sagen: „Ich nehme einfach jeden Tag die U-Bahn.“ Aber sie will diese Brücke überqueren können, sich diese Freiheit nicht nehmen lassen.
Heutzutage profitiert man vom Wegschauen, Auslöschen, Runterschlucken. Deshalb sind solche leidenden Noras enorm wichtig – Leute, deren Körper schmerzen und die deshalb dieses Unrecht, dieses Vergessen, das sie sich so wünscht, einfach nicht zulassen können.
Was macht Badeas Erzählweise so besonders?
Azelia Opak: Badea ist stark an der poetischen Qualität, an den Bildern interessiert. Zum Beispiel wird in den 60ern eine Halle, in der gerade noch hunderte Menschen niedergeschlagen worden sind, ganz schnell ausgeputzt und dann findet dort ein riesiges Ray Charles Konzert statt – das erste in Paris. Die Leute jubeln, er singt wunderschön. Ray Charles ist ja bei Weitem kein Kolonialist, das macht das Ganze noch komplizierter. Das ist die Absurdität des Lebens, da, wo die Dramatik beginnt, ehrlich zu erzählen.
Irène schlägt Younes vor, nach Kanada zu gehen und die gesamte französisch-algerische Geschichte hinter sich zu lassen. Warum lässt Younes sich nicht darauf ein?
Azelia Opak: Die Frage lautet eigentlich: Wieso kämpft man für sein Land? Irène hat die Papiere für Kanada besorgt, die Möglichkeit, alles hinter sich zu lassen, ist real.
Ich denke, was man aus einer heutigen, westlichen Sicht schwer verstehen kann, ist diese Liebe zum Land eines unterdrückten Volks. Davor habe ich eine gewisse Achtung. Man denkt schnell: „Sollen sie doch das kleine Stück Land hergeben. Dann gibt es wenigstens Frieden, es werden keine Kinder mehr ermordet.“
Aber sobald ein Volk von dem Gedanken „meine Kinder sind die Märtyrer für ein freies Land von morgen“ beseelt ist, ist es gefährlich zu unterdrücken.
Natürlich geht es auch um Younes persönliche Auslöschung. Er würde dort mit ihr existieren, aber er hätte verloren, seine Geschichte aufgegeben. Das macht auch das Ende so tragisch, dass er nämlich trotzdem verliert, obwohl er geblieben ist und gekämpft hat. In seiner persönlichen Geschichte hat er verloren.
Wir sehen im Stück, wie die politische Liebe sich in die private hineinmischt, in Konkurrenz zu ihr tritt. Wenn man durch die politische Situation Familienangehörige verliert, wird sie plötzlich eine private Angelegenheit.
Ich denke, ein Land ist so lange frei, solange man dort unpolitisch sein kann. In der Türkei meiner Kindheit war es noch so. Heute muss man dort überlegen, wie man sitzt oder steht, denn das kann zeigen, ob man zum Beispiel für die Opposition ist. Da mischt sich die politische Haltung unausweichlich ins Privatleben. Und Menschen, denen die politische Mission wichtiger ist, als die Mutter ihrer Kinder, sind gefährlich. Ähnlich wie bei Elektra: Wenn das moralische Urteil eines aufrechten Menschen überschattet wird von einer persönlichen, privaten Angelegenheit, stehen unweigerlich Krieg, Unrecht, generationsübergreifende Spuren im Raum.
Wie kann es für eine Gesellschaft mit Schuld und Trauma zB. nach einem Krieg weitergehen?
Azelia Opak: Ich glaube nicht an das Schuldgefühl der Folgegeneration. Schuld kommt von oben herab, sie ist die Schwester von Victimising, eine Weiterführung einer Machtposition. Nora ist nicht zum Therapeuten gegangen, weil sie sich schuldig fühlt, sondern weil sie diese Brücke nicht überqueren kann.
Das, worüber nicht gesprochen wird, bleibt immer ein Problem. Besonders, wenn man fürchtet, dass es vielleicht nicht politisch korrekt sei, dass man sich fälschlich die Opferrolle aneignen könnte, indem man spricht. Wem gehören welche Wunden und wer darf davon erzählen?
Wir brauchen die Stimmen der Unterdrücker, geschrieben von Unterdrückern, auf der Bühne, denn wir brauchen diese Stimme des Schuldgefühls. Wenn nur die, die verletzt worden sind, auf die Bühne dürfen, gehen wir diesem Schuldgefühl geschickt aus dem Weg: „Wir können kein Stück über den Algerienkrieg machen, weil wir keine arabischen Schriftsteller:innen haben.“ Wenn man das aber nicht nur von einer Position der Schuldigen aus betrachtet, sondern sich positioniert: „Ich war Opfer, ich war Teil des Kriegsverbrechens etc. Das ist meine Angelegenheit, das ist meine Wunde, weil da etwas vergessen worden ist, das mich persönlich angeht.“, könnte man die Dinge aufarbeiten.
Das ist eben die Qualität des fremden Blicks: Nicht die Wunden des Anderen zu erzählen, sondern sie nachzufühlen und aus diesem Empfinden heraus die eigenen Wunden zu erzählen. Das ist für mich der Friedensauftrag des Theaters.
Alexandra Badea: preisgekrönte Autorin, Regisseurin und Bühnenbildnerin, wuchs in Rumänien auf und lebt seit 2003 in Paris. Sie schreibt Romane, Hörspiele und Drehbücher, sowie Theatertexte, die international aufgeführt werden.
Azelia Opak, inszenierte Shakespeares „Coriolanus“ beim Wortwiege-Festival 2023. Sie schreibt Theaterstücke und Libretti, etwa für die Oper „Die Odyssee des Telemachos“, das unter ihrer Regie im Oktober 2024 im Dschungel Wien Premiere feierte.