Im Gespräch. Ira Süßenbach über Mario Wurmitzers „Worüber man lacht, wenn es nichts zu lachen gibt“.
Was wäre, wenn Daniil Charms, Pionier des Absurden, Dichter und Dissident im stalinistischen Russland, in unserer Gegenwart des digitalen Kapitalismus landen würde? Eine Verbeugung vor dem russischen Avantgardisten, dessen Werk oft mit Kafka, Ionesco oder Beckett verglichen wird.
Maxim ist fest entschlossen, Daniil zum perfekten Partner für sein Internet-Start-Up „Die absurde GmbH“ zu machen. Beim ersten Businessmeeting begegnen sie der Immobilienmaklerin Julia, die wenig beeindruckt ist. Maxims Ex-Freundin Mariam hat ihn rausgeworfen, muss nun aber ebenfalls die Wohnung räumen. Während im Fernseher die Panzer rollen, suchen die vier den Rückzug ins Private. Doch die eigenen vier Wände sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Ein Interview mit Regisseurin Ira Süssenbach.
»Es könnte sein, dass noch keine Einigkeit darüber besteht, wie sehr wir Daniil Charms brauchen.«
Mario Wurmitzer
»Worüber man lacht, davor müssen wir uns kurz nicht fürchten.«
Ira Süssenbach
Wer ist Daniil Charms?
Ira Süssenbach: Daniil Charms ist ein Avagandist, ein Absurdist, ein Lebenskünstler, auch ein Gigolo, ein Mensch der sich wahnsinnig gestellt hat, um nicht in den Krieg eingezogen zu werden und andererseits einen schrecklichen Tod auf sich genommen hat, um an seinem Werk arbeiten zu können. Eine faszinierende Persönlichkeit. Er wurde 1905 in St. Petersburg geboren, hat sein Leben lang in einer absurden Tradition gearbeitet und sehr viel geschrieben – Prosa, Gedichte, dramatische Werke, er hat aber auch leidenschaftlich Tagebücher geführt und viele Briefe verfasst.
Wegen der Zensur musste er vermehrt als Kinderautor tätig sein, vor allem in einer Zeitschrift, die auf Russisch Tschisch und Josch (Der Zeisig und der Igel) hieß. Interessant ist, dass man sein Werk für die Kinder nicht von dem für Erwachsene trennen kann, wie es bei den meisten Autor:innen der Fall ist, weil diese absurde Tradition für die Kinder dieselbe Welt beschreibt wie für die Erwachsenen. Beide sind so unbegreiflich, lustig und eben absurd.
Daniil Charms war auch der Gründer einer künstlerischen Vereinigung namens Oberiu, eine Gruppe bzw. ein Kollektiv der realen Kunst. Sie waren sehr provokant und betrieben, was wir heute Aktionismus nennen würden, nur damals gab es das Wort noch nicht.
Du hast einen schrecklichen Tod erwähnt, wie ist er gestorben?
Ira Süssenbach: Daniil Charms war ein überzeugter Pazifist. Er hatte Angst, in den Krieg eingezogen zu werden, also hat er Schizophrenie vorgetäuscht. Er wurde 1942 zum zweiten Mal festgenommen, während der Blockade von Leningrad. Anscheinend gab es in seinem engsten Kreis einen Spitzel. Ihm wurde eine anti-patriotische Haltung in Kriegszeiten vorgeworfen, was damals als Staatsverrat galt! Ich meine, die Stadt war eingekesselt, die Leute sind auf der Straße an Hunger gestorben. Niemand war zu dem Zeitpunkt sehr heiter in Leningrad. Er wurde also festgenommen und anscheinend hat er entweder wieder Schizophrenie vorgetäuscht, oder war es aufgrund der früheren Geschichte: Jedenfalls wurde er im Gefängnis in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.
Daniil Charms war ein sehr großer Mann, zwei Meter groß, und die Essensrationen waren damals vielleicht 100g Brot am Tag pro Person. Er ist dort leider verhungert.
Was ist dann mit seinem Werk passiert?
Ira Süssenbach: Seine Schriften wurden nur durch Zufall von einem Freund, Jakov Druskin, gerettet. Seine zweite Frau, Marina Malic, die auch ihre Memoiren hinterlassen hat, hat sämtliche Schriften diesem Jakov Druskin in einem Koffer übergeben. Druskin hat sein Leben riskiert, indem er die Schriften seines Freundes bei sich behalten hat. Und er hat sie dann, als es wieder möglich war, veröffentlicht. Seine Kollegen aus der Oberiu-Gruppe hatten alle eine sehr tragische Lebensgeschichte. Ich verstehe gut, woher Mario Wurmitzers Faszination für Daniil Charms kommt.
Mario Wurmitzer hat gesagt: „Es könnte sein, dass noch keine Einigkeit darüber besteht, wie sehr wir Daniil Charms brauchen.“ Was denkst du darüber?
Ira Süssenbach: Ich stimme ihm da vollkommen zu. Bevor ich Mario kennengelernt habe, kannte ich seine Werke, unter anderem seine großartigen Romane. Und als ich die las, habe ich immer diese eine Frage gehabt. Mario und ich sind derselbe Jahrgang, wir sind also gleichzeitig aufgewachsen, er in Österreich, ich in Moskau, bis ich 2012 aus Russland ausgewandert bin. Und ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Woher weiß er, wie es sich anfühlt, in dieser Diktatur aufzuwachsen, wie es sich anfühlt, in Russland groß zu werden, wenn er wahrscheinlich nie dort war. Das war die erste Frage, die ich ihm gestellt habe. Und darauf hat er geantwortet: „Ich bin aus Mistelbach.“ Und ich meine, wir führen dieses Gespräch im Jänner 2025, nachdem die Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ, NEOS und ÖVP gescheitert sind. Der Bundespräsident hat Herrn Kickl mit der Regierungsbildung beauftragt. Und ich verstehe mehr und mehr, was Mario schon in seiner Jugend gesehen hat. Und das Fazit ist: Ja, Österreich ist keine Diktatur, aber es könnte eine werden! Und die große Warnung davor findet man in den Werken von Daniil Charms.
Mario Wurmitzer schreibt ebenfalls, was man absurde Literatur nennen kann. Worin liegt denn die Kraft des Absurden?
Ira Süssenbach: Man erwartet vom Theater eine wahrhaftige Darstellung, eine Übertragung des Lebens auf die Bühne. Es gibt aber einen Widerspruch in dieser Erwartung, weil sehr oft das Publikum eine Geschichte mit einem linearen Narrativ will. Im Stück sagt eine Figur zu Daniil Charms: „Warum schreibst du nicht einfach eine schöne Geschichte mit Anfang, Höhepunkt und Ende?“ Wie wir alle heutzutage empfinden, stimmt das einfach nicht. Das Leben macht keinen Sinn. Es gibt kein lineares Narrativ. Das würde heißen, dass das absurde Theater eine viel wahrhaftigere Wiedergabe des Lebens auf der Bühne bieten kann. Das zieht mich an. Das, und das massive Humorpotenzial, das man im Absurden finden kann. Weil ich das für ein starkes Mittel der Katharsis halte: für die Unterhaltung des Publikums, aber auch als Impfung gegen Diktatur.
Vor nichts hatten die Diktatoren aller Farben in der Geschichte mehr Angst als vor Komik. Seit der Antike. Als ich aus Russland ausgewandert bin, war es noch okay, aber spätestens, als Russland die Ukraine angegriffen und diesen sinnlosen Krieg begonnen hat, waren die ersten Künstler:innen, die den Staat verlassen mussten, die Stand-up-Comedians, die Kabarettist:innen.
Ein Zitat von dir: „Worüber man lacht, davor müssen wir uns kurz nicht fürchten.“
Ira Süssenbach: Genau. Das Lachen ist eine kurze Angstbefreiung, ein kurzer Moment, in dem man sich als frei empfindet, und nicht so gelähmt. Denn diese Angst, die die Menschen in einer Diktatur einlernen, die paralysiert. Diese kurze Befreiung eröffnet einen Spalt, durch den ein freier Gedanke entstehen kann. Und den Moment muss man erwischen. Und das ist vielleicht die Kraft oder die Essenz von Absurdem und Humor.
Mario Wurmitzer studierte Germanistik und Geschichte. 2010 erschien sein Jugendbuch „Sechzehn“. 2023 wurde er mit seinem Text „Das Tiny House ist abgebrannt“ zum Bachmann-Wettbewerb eingeladen, „eine Form von Kapitalismuskritik, aber in witzig.“ (Mara Delius) 2023 erschien sein Roman „Es könnte schlimmer sein“.
Ira Süssenbach studierte Wirtschaftswissenschaft und Theaterregie. 2012 verließ sie Russland aufgrund der politischen Situation. 2023 inszenierte sie beim Wortwiege-Festival „Schlachthof – wir essen nur Karfiol“ von Slawomir Mrozek. Zuletzt inszenierte sie am Schauspielhaus Salzburg.